„Ausgebrochen“/Markus 16,1-8a

Predigt im Gottesdienst am Sonntag, 5. April 2015 – Ostersonntag

Im Pazifischen Ozean, in der Bucht vor San Fransisco, liegt die Insel Alcatraz. Die eiskalte Brandung schlägt auf schroffe Sandsteinfelsen. Metallene Türme ragen in den nebligen Himmel.

Jahrzehntelang war Alcatraz nicht nur ein Name. Alcatraz, das war ein Symbol. Ein Mythos. 30 Jahre lang stand hier ein Hochsicherheitsgefängnis. Ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gab. The Rock oder Flucht aus Alcatraz – so heißen die legendären Filme, die man bis heute sehen kann. Aber es gab keine Flucht aus Alcatraz. Von Alcatraz, das wussten alle, kam niemand zurück.

In einer Felsen-Höhle war auch der tote Jesus gefangen. Vor der Tür ein großer Stein. Ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gab.

Aus dem Tod gibt es kein Entrinnen. Das wissen wir alle.

Es gibt ja immer wieder mal medizinische Versuche. Da lassen sich Leute einfrieren – in der Hoffnung, dass wir in hundert Jahren weiter sind mit der Forschung … Aber offenbar lässt sich die Natur nicht austricksen. Nicht in diesem Punkt. Wir sind auf Endlichkeit hin angelegt.

… und der Tod, der hat uns ja nicht erst in der Hand, wenn wir sterben. Er hat jetzt schon Macht über uns. Er macht uns Angst. Wie wird das mal sein? Oder auch: Welche Menschen verliere ich? Der Tod macht uns sprachlos. Was soll man denn sagen, wenn jemand gestorben ist? Herzliches Beileid? Oder einen Osterwitz erzählen? Passt alles nicht so gut … Und der Tod macht uns hart. Lieber schieben wir ihn weg, verdrängen ihn …

Der Tod hat uns in der Hand. Und der Tod hat Verbündete. Es gibt ja noch jede Menge andere Dinge, die dem Leben widersprechen. Die Menschen ihre Lebenskraft nehmen. Abhängigkeiten. Geldgier. Geiz. Lüge. Unwahrheit. Misstrauen. Mobbing. Diskriminierung. Alles Dinge, die dem Leben widersprechen.

… es ist nicht zufällig, dass die Bibel Tod, Sünde und Schuld oft im selben Zusammenhang nennt. Wesensmäßig hängt das alles zusammen. Es geht immer darum, dass das Leben auf der Strecke bleibt.

Der Tod hat uns persönlich im Griff. Wer kann schon sagen: Das ist mir alles fremd?

… und es gibt auch die große, politische Dimension. In der wir als Gesellschaft, als Land drinhängen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass man ungeborenes Leben wegmachen kann – auch dann, wenn es halt gerade nicht so reinpasst. Und wir sind ganz sorglos Waffenexporteur Nummer drei weltweit. (Aber wehe, das verkaufte Gewehr funktioniert bei der eigenen Truppe nicht. Dann ist die Aufregung groß.) 

Der Tod hält uns gefangen. Und wir kommen nicht raus.

Von Alcatraz, aus dem Hochsicherheitsgefängnis vor San Fransisco, kam niemand zurück. Knapp 30 Jahre lang. Bis ins Jahr 1962. Da gelang es dem Bankräuber John Paul Scott, auszubrechen. Er schwamm bis ans Festland. Mit Hilfe von aufgeblasenen Gummihandschuhen. Keine Ahnung, wie genau das funktioniert. Wahnsinn!

… und seit diesem Tag war der Mythos Alcatraz erschüttert. Der Ruf als ausbruchsicheres Gefängnis war dahin. Dieser eine Tag hat alles verändert, auch wenn der Betrieb erst mal noch weiterlief. Jetzt entdeckte man, wie marode die Bausubstanz war, vom Salzwasser. Die Betriebskosten wurden immer höher. Und schon ein Jahr später wurde Alcatraz stillgelegt. Heute ist das Gefängnis nur noch ein Museum.

Die Frauen gehen zum Grab, zu diesem Gefängnis im Fels. Auf dem Weg fragen sie sich noch: Wie sollen wir da eigentlich reinkommen? Wenn schon niemand rauskommt …

… und dann sehen sie die Ausbruchs-Spuren. Der große Stein – weggerollt. Wie genau das funktioniert hat, wissen sie nicht.

… aber ein Engel erzählt ihnen vom Ausbrecher-König Jesus. Von dem einen, der ausgebrochen ist aus dem Gefängnis. Von dem einen, der zurückkam aus dem Tod: Er ist auferstanden, er ist nicht hier. (Markus 16,6b)

Nicht nur der Tod selbst ist hier überwunden. Auch seine Verbündeten haben verloren. Verleumdung, Verrat, Verhaftung, Folter, Hinrichtung – all das ist zerbrochen am Ausbrecher-König Jesus.

… und seitdem geht es dem Tod so wie der Festung Alcatraz nach 1962. Der Betrieb läuft noch. Der Tod hat immer noch Macht. Es wird gestorben. Auf dieser Welt und bei uns.

… aber wir kennen den Ausbrecher-König. Der läuft frei herum. Und wir wissen: Er hat den Schlüssel mitgehen lassen. (Vgl. Offenbarung 1,18) Er wird zurückkommen und die Türen öffnen. Er wird uns allen aufschließen.

[D]ort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. (Markus 16,7b)

… das wäre jetzt doch ein schönes und rundes Ende für eine Oster-Predigt.

… aber ich kann hier noch nicht aufhören. Weil der Predigttext hier noch nicht aufhört. Haben Sie das Ende noch im Ohr, aus der Schriftlesung? Und […] [die Frauen] gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich. (Markus 16,8a)

Vorgestern, an Karfreitag, da gab es mitten in der Passionsgeschichte diesen unglaublichen Satz: Es ist vollbracht!

… und heute, an Ostersonntag, da ist Jesus ausgebrochen aus dem Gefängnis des Todes, … und es herrscht Furcht und Entsetzen!

Warum?

Von Gefängnis-Insassen kennt man das seltsame Phänomen, dass sie sich fürchten vor ihrer Entlassung. Dass sie Angst haben vor der Freiheit.

… weil sie sich arrangiert haben mit dem Todes-Trott im Gefängnis. Sie kennen ja nur noch den durchgeregelten Alltag, die vielen kleinen Schikanen, die Demütigungen, … Das alles gibt ihnen irgendwie auch Sicherheit. Da wissen sie wenigstens, wo sie sind.

… und sie haben Angst, frei zu sein. Auf eigenen Füßen zu stehen. Das Leben selbst zu gestalten.

… vielleicht steckt das hinter der Furcht der ersten Christen am leeren Grab. Und vielleicht ist das unser Problem. Dass wir uns arrangiert haben mit den Verbündeten des Todes. Dass wir’s gar nicht anders gewöhnt sind! Und in diesem Trott bleiben möchten!

Im Licht der Auferstehung leben, das ist nicht bequem. Ich soll meine dummen Gewohnheiten loslassen? Ich kann jetzt plötzlich auch offen reden mit dem blöden Nachbarn nebenan? Ich darf meinen Mund aufmachen, wenn Unrecht passiert? Ja, was wird denn dann werden? Wo komme ich da hin? Das kenn’ ich ja alles gar nicht!

Im Licht der Auferstehung leben, das ist nicht bequem. Da könnten Dinge anders werden. Aber es ist unser Auftrag. Spätestens seit Ostern. Spätestens, seit klar ist: Der Tod hat die letzte Macht verloren.

… aber überfordern wir uns nicht. Ich glaube, es beginnt schlicht und einfach damit, dass wir vom Ausbrecher-König hören. Dass wir von ihm weitererzählen. Dass wir gemeinsam feiern, wie Jesus Christus ausgebrochen ist aus dem Tod. Er wird uns die Kraft geben und den Mut, unsere Freiheit zu leben. Er hält unsere Hoffnung wach. Die Gefängnismauern bekommen Risse. Und frischer Wind weht durch die Zellenfenster.

… so, wie heute auf Alcatraz.

Amen.

Daniel Renz, Pfarrer