„Teure Last“/„Es kommt ein Schiff, geladen“, EG 8

Predigt im Gottesdienst in der Peterskirche Murr am Sonntag, 9. Dezember 2018 – Zweiter Sonntag im Advent

1626. Straßburg.

Der Lehrer und Pfarrer Daniel Sudermann sitzt an einem kleinen Holztisch. Der flackernde Schein der Petroleumlampe fällt auf die Bücherregale der alten Klosterbibliothek.

Daniel Sudermann ist immer wieder hier. Sucht nach Texten und Ideen für seine sonntäglichen Predigten. Mit seinen stolzen 76 Jahren müsste er das nicht mehr tun. Aber draußen tobt seit acht Jahren Krieg. Da braucht die kleine Evangelische Gemeinde in Straßburg Zuspruch und Trost. Er kann die Christen hier nicht alleine lassen.

Sudermann greift nach dem Stapel vor ihm auf dem Tisch. Bücher und Schriften von Johannes Tauler hat er herausgesucht. Johannes Tauler, der hat fast 300 Jahre vor ihm gelebt, lange Zeiten seines Lebens auch in Straßburg. Und hier, in der Bibliothek des Dominikanerinnenklosters St. Nicolaus in undis, hat auch er geforscht und geschrieben. Deshalb gibt es hier so viele Texte von ihm.

„Christus muss täglich neu in uns geboren werden.“ – „Wir sind der Ort, an dem Christus lebendig wird.“ Für solche mystischen Sätze ist Tauler bekannt. Sudermann findet tiefen Trost darin. Wenn die Welt auch zusammenbricht – die Seele kann doch zu Gott finden! So steht es auch in diesem Buch hier …

… doch Moment, was ist das? Unter dem Buch, das Sudermann herausgegriffen hat, erscheint ein handgeschriebener Zettel. Vergilbt ist er, mit abgestoßenen Kanten. Auch eine Melodie steht dabei. Dann ist es ein Lied! Sudermann summt die ersten Töne: Anfang vom Lied „Es kommt ein Schiff, geladen“ summen. Das kennt Sudermann! Er kennt auch einen Text dazu: „Es wolt ein Jäger jagen wol in des Himmels Thron“. Dieser Liedtext stammt aber nie und nimmer von Johannes Tauler! Und in der Tat – der Text auf dem Blatt beginnt anders. Ja, dieser Trick ist Daniel Sudermann vertraut aus seiner Zeit. Für einen neuen Text nimmt man eine alte, bekannte Melodie. Damit die Leute gleich gut mitsingen können!

Was schreibt nun Johannes Tauler in seinem Lied? Gespannt entziffert Daniel Sudermann die ersten Worte: „Es kommt ein Schiff, geladen / bis an sein’ höchsten Bord, …“

Ein Schiff! Sudermann sieht es förmlich vor sich. Wie auf der großen Brücke über den Rhein, wo er oft steht und schaut. In die Ferne. Ob auch Johannes Tauler an diesen Ort gedacht hat? Auch er hat ja regelmäßig Schiffe kommen sehen hinten am Horizont. Früchte und Gewürze haben die geladen, Stoffe und Baumaterial, oft aus fernen Welten.

… aber nicht nur auf Waren wartet man am Ufer. Allzu oft sind es auch Waffen. Mehr und mehr Waffen bringen die Schiffe herbei. Und auf dem Rückweg nehmen sie die Toten mit. Daniel Sudermann schaudert. Leichenberge muss auch Johannes Tauler gesehen haben auf den Schiffen. Zu seiner Zeit hat die Pest gewütet, diese grauenvolle Seuche.

Was hat nun dieses geheimnisvolle Schiff im Lied geladen? Die erste Strophe spannt auf die Folter. „[G]eladen bis an sein’ höchsten Bord“ ist dieses Schiff, – aber mit was denn nun? Dann, merkt Sudermann, beschleunigt die wellenförmige Melodie und wird höher. Und beim höchsten Ton wird es dann endlich verraten: „… / trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewigs Wort“.

Ein Advents-Lied hat Daniel Sudermann da entdeckt! Ein Lied von Gottes Kommen in die Welt. Und das voll beladene Schiff steht dann wohl für die schwangere Maria. Daniel Sudermann schmunzelt. An vielen Adelshöfen ist er als Erzieher tätig gewesen, hat viele schwangere Frauen gesehen. Doch — so schlecht ist der Vergleich doch gar nicht. Und auch gar nicht so uncharmant, wie er beim ersten Hören klingen mag …

Oder ist mit dem Schiff die menschliche Seele gemeint, als Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch? Vielleicht gilt ja beides zugleich, denkt Sudermann …

„Das Schiff geht still im Triebe, / …“, liest Sudermann weiter. Dieses Weihnachts-Schiff nähert sich still. Nur der Wind in den Segeln treibt es an. Keine Schiffssirene kündigt seine Ankunft an, keine Marktschreier sind an Bord. Weihnachten kommt still und leise. Wer zu laut ist, kann es überhören.

… aber dieses stille Schiff hat es in sich. Im wahrsten Sinne des Wortes. „[E]s trägt ein teure Last; …“

Ja, ein Kind ist immer auch Last, denkt Sudermann. Gerade in diesen unsicheren Zeiten. Und zugleich ist es lieb und teuer. Und dieses Kind erst recht! Gottes Kind, Gottes Hoffnung für die Welt. In eine Welt voll Krieg und Leid … schickt Gott ein Kind. Ein Lebenszeichen. Ein Liebeszeichen. „[D]as Segel ist die Liebe, / …“. Die treibt das Weihnachts-Schiff an. Gott macht weiter mit dieser Welt. Er lässt sie nicht allein.

Das muss meine Gemeinde hören, denkt Sudermann. Und singen muss sie das! Hinter all der Hektik des Kriegstreibens steigt hinten am Horizont langsam, unaufhaltsam das Weihnachts-Schiff auf. Kraftvoll teilt es die Wellen mit seiner teuren Last. Es muss nicht gegensteuern. Die Richtung ist klar. Das ist keine billige Vertröstung. Das ist tiefe Gewissheit.

„Der Anker haft’ auf Erden, / da ist das Schiff am Land. / Das Wort will Fleisch uns werden, / der Sohn ist uns gesandt.“

Nun legt das Schiff tatsächlich an. Gottes Welt und unsere Welt verbinden sich. Sie haften fest aneinander. Es soll keinen Ort mehr geben, an dem Gott nicht ist. Nirgendwo mehr sollen wir von Gott verlassen und allein sein.

Wieder leitet die zweigeteilte Melodie über zur Bedeutung des Bilds vom Schiff: „Das Wort“ wird „Fleisch“. Daniel Sudermann hört hier sofort die berühmte Weihnachtsgeschichte aus dem Johannesevangelium. Bis heute hat er die Tragweite dieser Zeilen nicht völlig durchdrungen. Gottes unvergängliches Wort wird Fleisch und Blut … Ganz greifbar, mitten in Raum und Zeit, mitten in unserer Weltgeschichte.

… und zugleich setzt Taulers Lied noch einen weiteren Akzent: „Das Wort“ ist „Fleisch“ geworden auf dieser Welt, – und es „will“ nun auch für „uns“ heute“ „Fleisch“ „werden“, auch für „uns“ ist „der Sohn“ „gesandt“.

Die Ladung des Weihnachts-Schiffs, – sie wartet darauf, ausgeladen zu werden. Gott will also nicht nur zur Welt kommen, sondern auch in die Herzen von uns Menschen.

Das ist der Mystiker Johannes Tauler, wie Daniel Sudermann ihn kennen und schätzen gelernt hat: Weihnachten – nicht nur eine äußerliche Tradition, sondern lebensverändernde Kraft! Nicht nur schöne Gefühle, sondern eine ganz neue Haltung! Und durch und durch Gegenwart. Keine verschwommen-undeutliche Zukunft. Nur ein Hier und Jetzt.

Nun kommt Sudermann schon zur letzte Strophe des Lieds. Und liest: „Es lieget in der Krippen / das hübsche Kindelein, / …“ Ei, ist das kitschig! Da hat Tauler den Bogen doch ein klein wenig überspannt! Daniel Sudermann ist dieser Satz zu süßlich und zu leicht. Das „hübsche Kindelein in der Krippe“, – das holt man einmal im Jahr aus dem Schrank … und packt es dann wieder weg …

Es muss anders lauten … Eilig sucht Daniel Sudermann ein Stück Papier hervor, greift zur Feder – und dichtet Wort für Wort: „Zu Bethlehem geboren / im Stall ein Kindelein, / gibt sich für uns verloren, / gelobet muss es sein.“ Jetzt hat der Text genug Tiefe! Jetzt passt er auch in die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs. Und in zukünftige Zeiten. Jesus kommt im Stall von Bethlehem zur Welt. Also bis heute überall dort, wo Menschen im Dreck leben, in Armut, in Verzweiflung. Wo sie flüchten müssen, wo kein Platz für sie ist. Genau da ist Gottes Sohn. Und genau da wird er mit den Menschen leben und weitergehen. Das Kind im Stall „gibt sich für uns verloren“, – so wie der Mann am Kreuz später sein Leben hingeben wird.

Daniel Sudermann hält inne an seinem Holztisch. Soll das Lied so enden? Oder könnte es noch weitergehen?

Er denkt an die Menschen in seiner Gemeinde. An ihre bittere Not, ihren schweren Alltag. Und plötzlich fliegt seine Feder wie von selbst über das Blatt: „Und wer dies Kind mit Freuden / umfangen, küssen will, / muss vorher mit ihm leiden / groß Pein und Marter viel, | danach auch mit ihm sterben / und geistlich auferstehn, / das ewig Leben erben, / wie an ihm ist geschehn.“

Auch wir selbst können zum Weihnachts-Schiff werden, will Sudermann sagen. Auch wir können „dies Kind […] umfangen“. Christen – Menschen, in denen Gott selbst wohnt. Das verändert die Welt, nicht nur an Weihnachten.

Aber es hat einen Preis, Jesus in sich wohnen zu lassen. Da ist sie wieder, die „Last“ aus der ersten Strophe. Leid und Tod sind im Leben als Christ nicht ausgeschlossen, sondern eingeschlossen.

Doch so wie Jesus nicht im Tod geblieben ist, so wird Gott auch die nicht im Tod lassen, die mit diesem Jesus verbunden sind. Zum Weihnachts-Schiff werden, — das heißt auch: Mit Jesus zurückfahren in Gottes Welt. Mit einer „teure[n] Last“. „[A]uferstehn“ zu neuem Leben.

Die Petroleumlampe flackert. Es ist kühl geworden in der steinernen Halle. Daniel Sudermann fröstelt. Und zugleich fühlt er sich wohlig warm. Getröstet. Gefasst. Er greift nach seinen Sachen, steht auf.

Im selben Jahr noch, 1626, erscheint das von Daniel Sudermann herausgegebene Straßburger Gesangbuch. Darin auch das alte neue Lied: „Es kompt ein Schiff geladen“. Überschrift: „Ein uraltes Gesang, so unter deß Herrn Tauleri Schrifften funden, etwas verständlicher gemacht: Im Thon, Es wolt ein Jäger jagen wol in des Himmels Thron“. Binnen weniger Jahre wird das Advents-Lied populär, in Straßburg und darüber hinaus.

Was Daniel Sudermann damals noch nicht wissen kann: Nur wenige Jahre nach seinem Tod wird das Lied wieder verschwinden. 200 Jahre lang bleibt es weitgehend unbekannt. Vor allem bei den Evangelischen. Erst der Theologieprofessor Friedrich Spitta wird es neu entdecken, ebenfalls in Straßburg, Ende des 19. Jahrhunderts.

Ob Menschen es auch in den Jahrhunderten nach ihm noch singen? Und sich anrühren lassen vom Weihnachts-Schiff mit seiner „teuren Last“?

Amen.

Daniel Renz, Pfarrer