„Auferstehung – ganz!“/1. Korinther 15,12f.20-22

Predigt im Gottesdienst in der Peterskirche Murr am Sonntag, 20. November 2016 – Ewigkeitssonntag

Mitten in der Nacht wacht Ruth auf. Ihre Hand tastet nach der anderen Bettseite. Nach Joachims Bettseite. Doch ihre Hand greift ins Leere. „Joachim?“ Ruth schaltet die Nachttischlampe ein. Die andere Bettseite ist leer. Kein Joachim. Natürlich kein Joachim, wie konnte sie das nur vergessen …

Seit einem Jahr passiert das Ruth immer wieder. Dass sie aufwacht mitten in der Nacht, und ihre Hand sucht nach Joachim. So wie in all den Jahren zuvor. Sein Tod – sie kann ihn immer noch nicht fassen. Tagsüber ist es leichter. Da gibt es Aufgaben und Ablenkung genug. Aber nachts, da wird die Sehnsucht grenzenlos.

Da helfen ihr auch die Worte der Mitmenschen nicht. Die gut gemeinten Tröstungen hier und da: „Joachims Seele ist doch um dich!“ – „Sein Geist behütet dich!“ – „Er passt jetzt als Engel auf dich auf!“

… als Engel! Da muss Ruth fast lachen. Ausgerechnet als Engel! Womöglich noch auf einer Wolke und mit Harfe! Ihr Joachim! Wo er doch so unmusikalisch war … Das kann sie sich nicht vorstellen. Und das will sie sich auch gar nicht vorstellen. Sie will jetzt doch gar keinen Engel. Und auch keinen unpersönlichen Geist, keine schwebende Seele. Sie will ihren Joachim. So, wie er war. Mit Seele und Leib. Sie will seine großen Hände spüren, seinen Bart, seinen warmen Bauch. Sie will sein raues Lachen hören, seine Stimme, sein Atmen. Sie will wieder das Leben mit ihm teilen, die Küche, das Bett. Ihr Joachim soll jetzt hier sein bei ihr. Ganz und gar. Mit allem, was ihn ausmacht.

Wie genau ist das mit den Toten? Wo sind sie? Und wie soll man sie sich vorstellen?

Auch in der christlichen Gemeinde im griechischen Korinth, vor 2.000 Jahren, haben sich die Menschen darüber Gedanken gemacht. Und sie kamen auf ganz ähnliche Ideen wie viele Menschen heute.

Die Seele eines Toten lebt weiter, dachte man damals. Sein Geist überdauert. Er wird zu einem Engel-Wesen. Der Leib eines Menschen dagegen, mit seinen irdischen Eigenschaften, der ist völlig unwichtig. Der ist wie eine äußere Hülle, die man ersatzlos abstreift. Die verliert ihren Zweck und vergeht.

Auferstehung – das war für die Menschen in Korinth etwas rein Geistiges. Etwas Innerliches. Das heißt: Eine Auferstehung der Toten insgesamt, mit Seele und Leib, konnten sie sich nicht vorstellen.

… dieser christlichen Gemeinde von Korinth schreibt der Apostel Paulus folgende Zeilen:

„Wenn […] Christus gepredigt wird, dass er von den Toten auferstanden ist, wie sagen dann einige unter euch: Es gibt keine Auferstehung der Toten? Gibt es keine Auferstehung der Toten, so ist auch Christus nicht auferstanden. […] Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden.“ [1. Korinther 15,12f.20-22]

„Ihr glaubt doch an Jesus!“, schreibt Paulus den Korinthern. Und zugleich schreibt er uns Murrern heute. „Und ihr glaubt, dass er auferstanden ist.“

… wie war das denn mit diesem Jesus?

Zuerst war er tot. Der Stein lag vor dem Grab. Undurchdringlich. Dieser Jesus von Nazareth war am Ende.

So, wie es auch mit dem ersten Menschen dieser Welt zu Ende ging. „[D]u bist Erde und sollst zu Erde werden“ [Genesis/1. Mose 3,19b], bekommt Adam gesagt.

„Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube.“ Der Sarg, die Urne wird versenkt ins Grab. Wir Menschen sterben ganz und gar. Da ist keine unsterbliche Seele, die weiterlebt. Kein Geist, der überdauert. Und auch zu Engeln werden die Toten nicht.

Die Toten sind uns entzogen. Sie sind uns nicht mehr nah. Wir müssen sie loslassen.

… und dann war der Stein vor dem Grab plötzlich weg. Und dieser tote Jesus war zurück im Leben. Und zwar ganz und gar. Mit Haut und Haaren! Er war kein Geist. Das dachten die Jünger ja im ersten Moment … Das war ihre gewohnte Vorstellung: Auferstehung – etwas rein Geistiges … Aber dann merken die Jünger: Dieser auferstandene Jesus ist einer aus Fleisch und Blut, mit Hand und Fuß. Mit den Kreuzes-Wunden noch in seinem Körper. Und mit Appetit auf gebratenen Fisch. [Vgl. Schriftlesung Lukas 24,36-43.]

Nur so konnten die Jünger ihn erkennen. Nur so konnten sie ja überhaupt wissen, dass das Jesus war — und nicht irgendein fremdes Wesen … Ihr Jesus. So, wie er war. So, wie er ihr Freund war.

Die Auferstehung ist nichts Halbes. Nicht nur die Seele der Toten lebt weiter. Nicht nur ihr Geist überdauert. Und sie werden nicht zu Engeln.

… sondern die Toten bleiben die Menschen, die sie waren und sind. Die wir kennen. Als diese Menschen sterben sie, ganz und gar. Und als eben diese Menschen schenkt Gott ihnen neues Leben. Ein neues Leben mit Seele und Leib. Mit all ihren besonderen Eigenschaften. Weil unsere Sehnsucht auch Gottes Sehnsucht ist. Weil Gott seine Menschen ganz bei sich haben will.

… und weil wir Menschen eben einmalig sind. Nicht beliebig. Wir behalten unsere Identität. Nicht irgendjemand wird auferstehen. Irgendein austauschbares Wesen. Sondern wir selbst.

Das mit Jesus war nur der Anfang. Nur der erste Versuch. Was er durchgemacht hat in drei Tagen, das ist auch unser Schicksal. Wir werden sterben, ganz und gar. Und ganz und gar auferstehen. In dieser Hoffnung leben wir. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Mitten in der Nacht wacht Ruth auf. Ihre Hand tastet nach der anderen Bettseite. Greift das Gesangbuch, das dort liegt. Ruth schaltet die Nachttischlampe ein. Schlägt das Buch auf. Bei dem einen Lied, das sie tröstet in letzter Zeit. „Von guten Mächten treu und still umgeben“. Ihr Joachim ist nicht mehr hier. Nach und nach kann sie das fassen. Aber Gott ist hier. Und der hält Joachim nun, und er hält sie in seiner guten Hand. In Gottes Liebe sind sie also weiter verbunden miteinander. Wo immer Ruth Gottes Liebe spürt, spürt sie auch ihren Joachim. Weil Gott uns bei sich haben will. Ganz und gar. Aus lauter Liebe.

… so ist das. Amen.

Daniel Renz, Pfarrer