„Nach Hause finden“/Lukas 2,1-20

Predigt im Gottesdienst in der Peterskirche am Dienstag, 24. Dezember 2015 – Heiligabend

Da hinten leuchtet das Ortsschild. Es strahlt durch den Nieselregen. Ich gehe vom Gas. Gleich ist es geschafft. Die Baustelle da, die gab es letztes Mal noch nicht. Wieder manches anders geworden hier. Aber die dritte rechts, die ist es immer noch. Und da ist das Haus mit dem imposanten Lichterschmuck. Wie hießen die nochmal? Das Radio ist inzwischen aus. Der Wagen schleicht die letzten Meter. Da, die Querstraße. Der große Baum, so viel älter als ich. Der Gartenzaun. Und vor der Garage ein Platz. Freigehalten für mich. Ich rolle aus, drehe den Motor ab. Einen Moment lang genieße ich die Stille. Dann taste ich nach dem Schlüssel. Den habe ich bis heute. Ich betrete heiligen Boden. Gleich geht sie auf, die vertraute Tür. Und ich bin zu Hause.

Zeit heimzukommen. Driving home for Christmas. An Weihnachten nach Hause kommen – eine ganz tiefe Sehnsucht ist das. Sie setzt Menschen in Bewegung. Treibt sie auf die Straßen. Und heute Abend in die Häuser und Wohnzimmer. Es gibt kein anderes Fest, das unsere Emotionen so fest umklammert. Weihnachten – Zeit heimzukommen.

Wie ist das bei Ihnen? Sind Sie nach Hause gekommen über Weihnachten? Oder haben Sie es noch vor die nächsten Tage?

… und wie ist das in der Weihnachtsgeschichte? Mit dem Nach-Hause-Kommen? Was erzählt dieser alte Bericht aus dem Lukasevangelium?

Er erzählt zuerst von Josef. Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth. In Nazareth, da ist Josef zu Hause. Im Norden von Israel. Nicht weit vom See Genezareth. Da gehört er hin, da lebt auch seine Familie.

… aber Josef muss los. Nach Bethlehem. Beim Toten Meer. 170 Kilometer südlich. In Bethlehem, da war Josefs Familie mal zu Hause. Aber das ist Jahrhunderte her. Josef kennt keinen mehr in Bethlehem. Ort und Leute sind ihm völlig unvertraut. Nur auf dem Papier gibt’s diese Verbindung noch. Aber was in den Papieren steht, gilt vor dem Gesetz. Und Josef muss los. Weg von zu Hause.

Mit dabei: Maria. Auch Maria kommt aus Nazareth. Auch ihre Familie lebt dort. Aber Maria übt schon ihren neuen Nachnamen. Sie ist gerade dabei, ein neues Zuhause zu finden in Nazareth. Sie ist verlobt mit Josef. Gemeinsam richten die beiden die Wohnung ein. Da wollen sie gemeinsam zu Hause sein. Gemeinsam die Zukunft bestehen. Eine Familie gründen.

… aber Maria muss mit. Wird herausgerissen aus allen Ideen und Planungen. Die erste tiefe Erfahrung, die sie teilt mit ihrem zukünftigen Mann, ist das Weg-Müssen von zu Hause. Diesen Preis zahlt sie für die Verbindung, die sie da eingegangen ist. Mitgefangen, mitgegangen. Und wie es ihr geht als schwangere Frau, als werdende Mutter, interessiert keinen. Auch Maria muss funktionieren, weg von zu Hause.

Wen gibt es noch? Die Hirten. Und da wird’s nun noch frustrierender. Die Hirten, die haben ihr Zuhause nämlich schon längst verloren. An ihren Job. Hirte sein, das heißt: Zelte abbrechen, weiterziehen, arbeiten, wo es gerade was gibt. Draußen auf dem Feld bleiben. Nirgends richtig ankommen. Auch bei den Leuten nicht. Hirten  was sind das schon für Typen? Die haben’s doch nicht anders verdient! Wer nichts wird, wird Hirt.

… auch die Hirten sind also nicht so recht zu Hause in Bethlehem.

Das ist ja schon ein Ding mit der Weihnachtsgeschichte. Das allererste Weihnachten. Alle sind in Bewegung. Unterwegs auf den Straßen. Aber niemand kommt nach Hause. Im Gegenteil! Alle sind weg von zu Hause! Heimatliche Feststimmung – Fehlanzeige.

… und dann schiebt sich noch jemand hinein in diese Weihnachtsgeschichte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Kind. Und wenn jemand ein Zuhause bitter nötig hat, dann doch ein neugeborenes Kind! Bis in unsere Rechtsprechung hinein wird das akribisch sichergestellt – mit Sorgerecht, Mutterschutz, Elterngeld, … Wenn sich ein Kind seinen Weg auf die Welt bahnt, dann muss es doch gleich ein Zuhause finden dort! Einen Platz haben. Gewollt sein. Geliebt.

… und dann läuft es auch bei diesem Kind ganz anders: Es findet eben nicht nach Hause.

Von Anfang an hat es keinen Platz. Schon im Text der Weihnachtsgeschichte hat dieses Kind nicht so recht Platz: die war schwanger, heißt es in Vers 5, ganz knapp und nachgeklappt. Da ist irgendwie auch noch ein Kind dabei … Aber das zählt ja noch nicht. Bei der großen Schätzung. Da sind nur die Volljährigen gefragt.

Das Kind kommt in Bethlehem zur Welt. In Brothausen, wörtlich übersetzt. Wo es nicht zu Hause ist und nie zu Hause sein wird. Eine Unterwegs-Geburt im Stall. Behelfsmäßige Erstaufnahmeeinrichtung.

   

… und das Kind landet in einer Krippe. In einem hölzernen Futtertrog für Tiere. Wo eben noch Ochs und Esel ihre Zungen durchgezogen haben.

Als ob die Erfahrungen von Josef, Maria, den Hirten in diesem einen Kind zusammenfließen. Das Zuhause verlassen, das neue Zuhause verpassen, das Zuhause längst verloren haben … Als ob an diesem einen Kind für alle Zeiten ausgemalt wird, wie ist es ist, eben kein Zuhause zu haben. Nicht nach Hause zu kommen.

Ob in diesem Kind auch Platz ist für deine Geschichte? Und meine Geschichte?

… und wer nun meint, damit sei die Weihnachtsgeschichte auf die Spitze getrieben, muss sich nochmal anschnallen: Die Spannung wird nämlich noch unerträglicher. Dieses eine Kind, so heißt es, ausgerechnet dieses eine heimatlose Kind, … ist Gott. Das Größte, von dem wir reden können. Gott verlässt seine himmlische Heimat. Er kommt zur Welt. Und in seiner eigenen Welt findet er keinen Platz. Dem Schöpfer des Universums schlägt man die Tür zur Herberge zu. Völlig verrückt. Unfassbar.

Unser Gott liegt in einer Futterkrippe. Er wird bewacht von Josef, der sein Zuhause verlassen musste. Er wird gestillt von Maria, die ihr neues Zuhause verpasst. Er wird besucht von Hirten, die ihr Zuhause längst verloren haben.

[E]uch ist heute der Heiland geboren, sagt der Engel. Er sagt es den Hirten, Maria, Josef, er sagt es dir und mir.

Wenn ihr dieses Kind in der Krippe seht, dann merkt ihr: Gott teilt euer Schicksal. Er hat sich verbunden mit euch. Er kennt eure Sehnsucht, nach Hause zu finden. Verstanden zu werden. Vertraut zu sein. Geliebt. Wenn ihr dieses eine Kind an der Seite habt, dann seid ihr schon auf dem Weg nach Hause. Dorthin, wo ihr hingehört.

Dieses Zuhause für euch kennt keinen festen Ort auf dieser Erde. Es kann mal hier sein, mal dort. Sogar unterwegs könnt ihr nach Hause finden. Wo immer euch unser Gott an der Hand nimmt.

Und: Ihr werdet andere mitnehmen auf diesen Weg. Menschen, die sich auch nach zu Hause sehnen. Das Zuhause verlassen mussten, verpasst haben oder längst verloren. Das wird euch nicht mehr kalt lassen. An der Krippe blickt ihr euch gegenseitig in die Augen. Und ihr geht den Weg nach Hause gemeinsam. Ihr nehmt euch gegenseitig mit. Ihr schafft das. Und in all den anderen Menschen werdet ihr Gott selbst finden.

Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird!

Die Hirten sind äußerlich wie verwandelt. Sie »kehrten wieder um, priesen und lobten Gott«. Deshalb singen wir heute Abend so viel — und diese Lieder werden weiterklingen. In Murr, und wo Sie alle auch hingehen nachher. Auf den Straßen, in den Häusern und in anderen Gottesdiensten.

Maria, die geht den Weg nach Hause innerlich. Sie »behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.« Maria braucht Zeit. Man darf sich also Zeit nehmen für die Weihnachtsgeschichte. Man darf sich auch offen wundern, was da erzählt wird. Das wird ja auch erzählt in der Weihnachtsgeschichte: Menschen wundern sich über die Berichte der Hirten. Auch so kann der Weg nach Hause beginnen.

Zeit heimzukommen.« Driving home for Christmas.« Sind Sie nach Hause gekommen über Weihnachten? Oder haben Sie es noch vor die nächsten Tage?

Wieder manches anders geworden hier. Aber da vorne, ein Platz. Freigehalten für mich. Ein Platz an der Krippe. Bei diesem Kind. Das meine Sehnsucht kennt. Das mich selbst kennt. Das mir noch näher kommt, als ich mir selbst nahe sein kann. Einen Moment lang genieße ich die Stille. Dann taste ich nach dem Schlüssel. Den habe ich bis heute. Ich betrete heiligen Boden. Gleich geht sie auf, die vertraute Tür. Und ich bin zu Hause.

Amen.

Daniel Renz, Pfarrer